Angeboren oder anerzogen?
Falls Ihr den Elbischen Patienten schon gelesen habt, dann ist Euch vielleicht am Ende des Buches etwas bekannt vorgekommen.
Worauf spiele ich an?
Im Epilog gibt es eine Diskussion zwischen Iònatan und Klara, die stark an die klassische “nature vs nurture“-Debatte erinnert. Das lässt sich auf Deutsch mit “angeboren oder anerzogen” übersetzen. Irgendwie (bzw. ganz bewusst ^^) ist das gesamte Buch eine Parabel darauf.
Diese “angeboren oder anerzogen” Debatte ist zwar nicht neu, aber leider immer noch verdammt unverstanden (siehe CAVEMAN Comedyshows, die uns erklären wollen, dass Männer “so” und Frauen “so” sind, weil die “Höhlenmenschen” damals schon so waren!). Sie bleibt eine der großen philosophisch-psychologischen Fragen unserer Zeit.

Nature vs nurture — worum geht es da?
Es geht um die Beantwortung der folgenden Fragen: Werden unsere Fähigkeiten und unser Verhalten durch unsere Umgebung bestimmt (also z.B. die Erziehung oder die allgemeinen Lebensumstände) oder durch unsere biologischen/erblichen Voraussetzungen? Was macht uns zu dem, was wir sind und was von mir ist eigentlich “typisch ich”?
“Nature”…
… bezieht sich auf alle Gene und erblichen Faktoren, die beeinflussen, wer wir sind. Verfechter:innen der “die Gene bestimmen uns”-Seite argumentieren, dass unsere Erbanlagen, neben den körperlichen Eigenschaften wie Größe, Haarfarbe oder Gesichtsform, auch unsere Persönlichkeitsmerkmale und kognitiven Fähigkeiten bestimmen und uns daher als gesamtes definieren.
“Nurture” …
… bezieht sich auf alle Umweltvariablen, die einen Einfluss darauf haben, wer wir sind. Umweltvariablen sind beispielsweise unsere (frühkindlichen) Erfahrungen, wie wir aufgewachsen sind, unsere sozialen Beziehungen, unsere Ausbildung und die uns umgebenden Kultur. Verfechter:innen dieser Seite argumentieren, dass die Umweltvariablen uns stärker prägen, als das was unsere Erbanlagen uns mitgeben. Platt ausgedrückt: Ein vom Königspaar adoptiert und erzogener Bauern-Waisenjunge wird ein Prinz und kein Bauer.
Überlegen wir uns ein Beispiel. Wenn ein Schüler großartig in Mathe ist, sind es dann seine Gene, die dies bestimmen (weil z.B. beide Eltern Mathelehrer_innen sind und das Talent an ihn vererbt haben)? Oder liegt das daran, dass die Eltern ihrem Kind bei Hausaufgaben immer mit Rat und Tat zu Seite standen, den Schüler schon früh zum Lernen animiert haben, die eigene Bibliothek mit Mathebüchern gut gefüllt war und zuhause gern und positiv über Mathe gesprochen wurde? Oder liegt es gar daran, dass das Kind männlich ist und wir von Jungen mehr logisches Verständnis erwarten, als von Mädchen (Stichwort: Selbsterfüllende Prophezeiung)???
Diese Überlegungen sind nicht neu, bereits Locke brachte sie 1690 mit seiner Theorie der “tabula rasa” (leere Schreibtafel) auf. Er behauptete damals, dass Menschen bei ihrer Geburt wie ein “unbeschriebenes Blatt” sind und erst durch Lernen und ihre Erfahrungen alle Kenntnisse, Fähigkeiten und Verhaltensmuster erwerben.
Allerdings ist die Debatte auch hunderte von Jahren nach Lockes Tod immer noch überraschend aktuell.
Typische Themen der Debatte
- Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Die Diskussion ist auch für den Feminismus interessant. “Wie groß sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern wirklich? Wie wären wir, wenn das komplette Umfeld nicht eine rosa/hellblau Falle wäre? -> Ich nehme an, dann wären die Unterschiede weitaus kleiner! (Dazu sehr lustig: der Negativpreis für absurdes Gendermarketing: https://goldener-zaunpfahl.de/)
- IQ: Hier ist eine der bekannten Streitpunkte die Debatte um das Buch “The Bell Curve“, welches bezogen auf die USA behauptet, dass Afro-Amerikaner genetisch einen 10-15 Punkte schlechteren IQ haben, als weiße und das mit “interessanten” Statistiken begründen will. Auch “erklärt” der Autor, dass “Armut eine Folge von Genetik ist — Benachteiligung sei quasi etwas “natürliches”. Rassismus und Sozialdarwinismus im Deckmantel der Wissenschaft also, der leider den Aspekt “Nurture” (also z.B. die Tatsache, wer Zugang zu Bildung hat, völlig unterschätzt. Hier gibt es eine detaillierte Video-Analyse dazu. Nurture (also die Umweltfaktoren) spielen jedoch eine wichtige Rolle, was unsere Intelligenz angeht. Das fängt bei gesunder Ernährung an, aber selbst Faktoren wie, ob man in einem teuer renovierten Haus, oder in einem alten mit Bleirohren lebt, sind entscheidend. Trinkt man bleihaltiges Wasser, so wird man nach und nach “vergiftet”, was nachweislich die kognitiven Leistungen senkt!
- Sexuelle Vorlieben:
Auch sexuelle Vorlieben haben sich im Laufe der Zeit immer wieder gewandelt. Heutzutage herrscht der Standard der “heterosexuellen Monogamie” vor, aber dies bedeutet nicht, dass dies der “natürliche” Zustand für uns Menschen ist. Vielmehr drängen uns Hollywoodfilme und unsere kulturellen Werte auch in diese Richtung. Es wäre interessant zu sehen, wie wir unsere Sexualität ausleben würden, wenn es keinerlei Vorgaben gäbe. Wären dann z.B. mehr Menschen pan- oder bisexuell? Gäbe es mehr polyamore Beziehungen?

Angeboren oder anerzogen — meine Meinung dazu
Die nature vs nurture Debatte ist immer noch aktuell und bislang konnte durch wissenschaftliche Versuche nicht nachvollzogen werden, was uns nun eigentlich stärker prägt. Wissenschaftliche Versuche dazu sind schwierig durchzuführen, weil die Versuchsteilnehmer:innen ja bereits vorgeprägt sind. Somit lässt sich der Einfluss eines einzelnen Faktors kaum bestimmen.
“Angeboren” oder “anerzogen” ist keine strenge Dichotomie. Beide Aspekte sind bedeutsam und beeinflussen sich sogar gegenseitig. Ein Beispiel hierfür ist die Körpergröße eines Menschen:
Auch wenn ein Mensch vom Genotyp her groß werden sollte (weil er z.B. zwei sehr große Eltern hat), ist die richtige Ernährung essentiell, um diese Höhe zu erreichen. Kinder, die große Eltern haben, werden vielleicht nicht groß, wenn sie in ihrer Kindheit nicht richtig ernährt werden.
Somit kann man nicht behaupten, dass eine Person etwas nicht “in sich trägt”, nur, weil sie ein bestimmtes Merkmal nicht ausgebildet hat.
Ich finde diese Diskussion wichtig, denn wenn wir die Dinge nur nach ihrem ist-Zustand bewerten (z.B. “Mädchen sind schlechter in Mathe als Jungen”), dann vergessen wir, dass die meisten Zustände gesellschaftlich vorgezeichnet sind.
Allzuoft verurteilen wir Leute für das, was sie tun oder schauen auf diejenigen herab, die auf uns “faul” oder “dumm” etc. wirken. Wir sollten uns an unsere eigene Nase fassen und fragen, ob unsere Errungenschaften wirklich allein uns zuzuschreiben sind. Ich hatte beispielsweise ein bequemes, weißes, (halbwegs-)gesundes Mittelschichtsleben, mit einer Familie, die mir die Ausbildung finanziert hat. Ohne all das hätte ich wesentlich mehr Probleme gehabt, mein Studium zu beenden (oder überhaupt eines anzufangen!) Meine universitäre Laufbahn hat also nur begrenzt mit meinen geistigen Fähigkeiten oder meinem Fleiß zu tun. Daher ist es sinnlos, menschliche “Errungenschaften” (wie auch immer wir die definieren!) miteinander zu vergleichen. Besonders gefährlich wird es, wenn wir dadurch allgemeine Rückschlüsse auf das Geschlecht, die “Rasse” (schlimmes Wort!) etc ziehen.
Nicht jede ist ihres Glückes Schmied. Nicht alles hängt vom eigenen Talent oder Charakter ab, oft ist es einfach nur das Glück, in das “richtige” Umfeld hineingeboren zu sein, das uns erfolgreich macht.
Also; etwas mehr Empathie, bitte!
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